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Dr. Daniel Hess ist Kunsthistoriker am Germanischen Museum in Nürnberg. Für seine Forschungsarbeit nahm er 2017 eine Auszeit in einer Stadt, die nicht gerade als Hochburg der Kunst gilt: Los Angeles.

Dr. Daniel Hess auf dem Balkon des Getty-Forschungsinstituts in Los Angeles. Aber nur fürs Foto-Shooting, denn, so Hess: „Wegen der idealen Arbeitsbedingungen komme ich hier mehr zum Forschen als in Nürnberg“. Foto: Stefan Korol

 

Daniel Hess ist Sammlungsleiter am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Vorbereitung einer Ausstellung über die Kulturgeschichte von Davos. Das Thema ist die Gegensätzlichkeit, mit der Davos in Kunst und Literatur dargestellt wird. So haben im 19. Jahrhundert viele Künstler und Schriftsteller, die in dem damaligen Kurort Davos Heilung suchten, in ihren Werken ihre Sehnsüchte und Ängste ausgedrückt; die Zustände und das Leben dort wurden zu einem existentiellen Erlebnis: Davos war entweder Paradies oder Hölle. Die Ausstellung will zeigen, dass diese gegensätzliche Wahrnehmung von Davos bis in die heutige Zeit andauert. Hess forschte als Stipendiat der deutschen Künstlerresidenz Villa Aurora in Pacific Palisades.

Frage: Herr Dr. Hess, wir sitzen hier in einem fensterlosen Raum, mehr eine Zelle, vielleicht drei Quadratmeter groß. Wie fühlen Sie sich hier?
Hess: Großartig. Zum einen total abgeschottet von der Welt, aber so kann ich sehr konzentriert arbeiten. Ein paar Meter weiter ist ja der Balkon, hoch über der Stadt, mit dem Blick bis zum Pazifik. Da bin ich sofort draußen, da sind die Gedanken frei und fliegen übers Meer.

Frage: Unter anderem bereiten Sie hier eine Davos-Ausstellung vor, die im Germanischen Nationalmuseum laufen soll. Worum geht es in dieser Ausstellung?
Hess: Davos hatte schon immer den Nimbus eines Paradieses. Hoch in den Alpen, fernab der Welt, mitten in der Natur. Das versprach Wohlergehen, Heilung, Glück. Und ein Künstler hat Davos auch so dargestellt: Ernst Ludwig Kirchner, der Genesung und Frieden in Davos suchte und die Bergwelt in seinen Bildern entsprechend inszenierte. Für Thomas Mann ist Davos im Roman „Der Zauberberg“ dagegen zu einem Sinnbild für ein tiefkrankes Europa nach dem Ersten Weltkrieg geworden. In Davos suchten viele Lungenkranke Heilung und schwebten auf den Liegebalkonen zwischen Leben und Tod. Dies war und ist Davos, ein Paradies, ein existentieller Ort, ein kontroverser Ort bis heute. Diese Gegensätzlichkeit, diese Spannung – das ist das Thema der Ausstellung.

Frage: Wenn wir an Kunst denken, fällt uns Los Angeles wahrscheinlich eher nicht ein….
Hess: Ja, das stimmt. Aber auch wieder nicht. Denn erstens ist hier das Getty-Forschungsinstitut, das Größte seiner Art, weltweit. Mit einem für Wissenschaftler unglaublichen Service, der einem auf schnellstem Wege alle gewünschten Bücher auf den Tisch zaubert. In Deutschland müsste ich dafür nach Köln, Zürich oder sonst wohin fahren bzw. umständliche Fernleihen in Auftrag geben. Wenn ich hier mehr Material brauche, dann bestelle ich das – und zwei Stunden später kann ich damit arbeiten. Und zweitens: In LA ist die Nachfrage nach Kunst und damit auch nach Kunstexperten groß. Ich hatte zum Beispiel vor zwei Tagen ein Gespräch mit einem der größten Privatsammler zeitgenössischer Kunst hier in LA. Wir sind seine Sammlung durchgegangen, haben uns über die verschiedenen Epochen unterhalten, diskutiert. So bin ich der aktuellen Kunstszene hier begegnet, und beide Seiten profitierten enorm von dieser Begegnung. Aber das ist sicherlich ein Erlebnis, das der normale Besucher dieser Stadt nicht hat.

Frage: Wenn Sie die Möglichkeiten und Voraussetzungen für Forschung betrachten: Welche Unterschiede gibt es da zwischen Deutschland und Los Angeles?
Hess: Gut, da ist das Getty hier natürlich eine Ausnahme, es ist ein Forscher-Paradies, auch neben den Büchern, die hier alle zur Verfügung stehen: Die Architektur und die hilfsbereiten Menschen schaffen eine Atmosphäre des Wohlbefindens und der Konzentration. Es gibt überall kleine Lese- und Denkecken, Balkone, luftige Treppen, und einen Orangenhain. Und dazu blauer Himmel und dieser kilometerweite Blick. Das entspannt nach Stunden des Lesens und Schreibens und regt an. Natürlich gibt es auch hier einen musealen Alltag, eine Administration. Aber davon kriege ich nichts mit, für sechs Wochen kann ich mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren.

Standard-Arbeitsplatz: Ein vier Quadratmeter-Raum. Ohne Fenster, ohne Ablenkung. Nur Laptop, Licht, schnelles Internet. Fotos: Stefan Korol

Frage: Abgesehen von Ihrer Arbeit: Wie erleben Sie Los Angeles als „normaler“ Besucher?
Hess: Da sind zunächst viele Dinge, die mir fremd sind: Alles und jedes wird mit dem Auto erledigt, man geht nicht einen Meter zu Fuß. Die Stadt ist so riesig; egal wohin du willst, du fährst mindestens eine Stunde. Und stehst eine halbe davon im Stau. Auch gibt es kein Zentrum, so wie wir das kennen. Downtown? Kann sein, aber das ist nicht das, was wir als Zentrum verstehen. Die Fußgängerzone in Santa Monica? Schon eher, aber das ist bestenfalls eine Bummelmeile. Und dann, auf der anderen Seite: Eine faszinierende Landschaft. In zwei Stunden bin ich in der Mojave-Wüste. Eine Stunde später auf 3.500 Metern Höhe im Schnee. Und wieder zwei Stunden später am Pazifik oder ich stecke mit zehntausend anderen Autos im Stau auf dem Freeway. Diese landschaftliche Veränderung geht so wahnsinnig schnell, das ist sehr faszinierend.

 

Wenn die „Zelle“ mal zu eng ist: Hess hat nicht nur Zugang zu allen Werken der Getty-Bibliothek, sondern kann sich auch jedes Buch weltweit liefern lassen. Foto: Stefan Korol

Frage: Das klingt ja ähnlich gegensätzlich wie Davos. Sehen Sie da eine Parallele?
Hess: Absolut. Auch Kalifornien, vor allem Los Angeles galt und gilt als Paradies, hier suchten viele deutsche Schriftsteller und Künstler Zuflucht während des Naziregimes. Es gibt unvorstellbaren Luxus und schreiende Armut. Auch höre ich von ganz Vielen, die ich hier treffe, dass sie hier ihre lang gehegten Träume verwirklichen. Ob es klappt, ist eine andere Frage, aber sie glauben daran. Und das merke ich auch bei mir: Ich schöpfe hier Vertrauen und Mut, die Dinge einfach anzugehen, stärker an die Kraft der Ideen zu glauben. Ich fühle mich beflügelt: Wer hätte gedacht, dass die Davos-Ausstellung unter der kalifornischen Sonne so aufblüht!

 

Stefan Korol, Februar 2017 Los Angeles